Schladern, das Mekka der Zigeuner und der Bärentreiber

Einleitung:

In diesen persönlichen Erinnerungen soll auf keinen Fall ein rassistischer, religiöser oder ethnisches Werturteil über eine Volksgruppe abgegeben werden, sondern es war lediglich daran gedacht, die volkskundlich wertvollen Aufzeichnungen eines der letzten Zeitzeugen vor dem völligen Vergessenswerden zu bewahren, zumal die hier geschilderte Art einstigen Zigeunerlebens nicht zurückkehren wird. Während in den 20er Jahren höchstens  "2PS" ihren primitiven Wohnwagen zogen, sollen es heute 150 und mehr Pferdestärken, die sich in großen Autos mit modernen gummibereiften Wohnwagen als Anhänger verbergen. 
Das frühere Zigeunerleben mit seiner Romantik ist zwar für immer dahin, doch ihr Nomadendasein wird nach wie vor von Feindschaft und Verfolgung der jeweiligen Obrigkeit geprägt. Die Frage, ob es jemals gelingt, dieses ruhelose Volk in irgendeinem Land Europas anzusiedeln und seßhaft zu machen, wird wohl noch lange unbeantwortet bleiben.



Zigeunerlager an der Siegbrücke um 1930 in Rosbach. Die gebündelten Weideruten (links) deuten auf Korbflechter.



 Wanderwege der fahrenden Völker 


Die Zigeuner lagern wieder im Krummauel. Wer waren sie? Woher kamen sie? Ihr geschichtlicher Wanderweg ist lang, dornenreich und voller Antipathie, Unduldsamkeit und Vorurteile seitens der seßhaften Bevölkerung. Die Spuren sind nur gering und sporadisch, die sie bei ihrem Vagabundendasein hinterließen. So verschieden die Länder, die sie durchzogen und in denen sie kurzfristig lebten, so unterschiedlich sind auch ihre Namen: Ägypter, Lalleri, Nur, Karaki, Zangi, Kauli, Bohemien, Roma, Sinti und Zigeuner bei uns in Deutschland.

Weil nun das, was andere über sie aufgezeichnet und festgehalten haben nur sehr spärlich ist, soll in diesem Aufsatz von einem der letzten Zeitzeugen der Versuch gemacht werden, in letzter Sekunde noch einen kleinen Baustein aus der Blütezeit des Schladerner Zigeunerlebens in das bunte, jedoch lückenhafte Mosaikbild dieses Romantik und Geheimnissen umwitterten Nomadenvolkes einzufügen.

Mit dieser lokalen Rückschau aus den 20er Jahren verbinden sich sogleich Begriffe wie: Romantik, Zigeunermusik, rassige Frauen, hübsche schwarz-braune Kinder, Wohnwagenidylle, flackernde Lagerfeuer, drahtige Männer und Wahrsagerinnen. Aber auch der Glaube an ihre negativen Eigenschaften war bis heute nicht auszurotten. Als Bettler, Hausierer, Pferde oder Teppichhändler. Schon vor mehr als 150 Jahren schrieb das "Waldbröhler Kreisblatt im Jahre 1886 u.a. "Eine Zigeunerhorde, so zahlreich, wie man sie nur selten antrifft - eine Karawane, die 260 Köpfe, 41 Pferde und 31 Wagen zählt - macht sich gegenwärtig von Frankfurt a. M. nach Limburg alle auf dem Wege liegenden nassauischen Ortschaften unsicher. Bis zum Jahre 1933 brachten (nicht nur) hiesige Zeitungen immer wieder solche oder ähnliche Berichte, die oft übertrieben und dem Zweck entsprechend (Sensationslust) eingefärbt waren.

In jenen Tagen und Nächten herrschte im ganzen Dorf eine prickelnde, explosive Stimmung, eine ganz andersartige Atmosphäre, die sich besonders in der Kindlichen Fantasie widerspiegelte, sie bis in die nächtlichen Träume verfolgte. Nach Ablauf der polizeilichen Aufenthaltsgenehmigungen zogen sie weiter, um einer erneut nähernden Karawane Platz zu machen. 


Eine Zigeunersippe rastet um 1928/29 an der Straße zwischen Leuscheid und Weyerbusch


Der Schladerner Lagerplatz war bei allen nomadisierenden Fremdlingen bekannt und beliebt. Ob ihn nun Kesselflicker, Korbmacher, Landstreicher, Scherenschleifer, Bärentreiber, Zigeuner oder sogar Pulverfahrer aufsuchten, die mit ihrer gefährlichen Fracht nach Russland unterwegs waren. Sie machten hier nur eine nächtliche Rast, wobei ein zuverlässiger Ortsbewohner (Nichtraucher) für ein paar Groschen Entlohnung die Nachtwache hielt. Der Rastplatz hatte eine günstige Verkehrslage und war idyllisch am Schloßberg im Krummauel gelegen. Dort, wo der ehemalige Eselsweg zur Burgruine hinaufführte. Dieses unter mächtigen dunklen Fichten im Schatten der alten Windecker Burgfeste gelegene Lagerplatz machte stets einen unheimlichen Eindruck, besonders wenn im einstigen heute versumpften Siegbett bei Einbruch der Dunkelheit die erste Irrlichter tanzten und der schaurige Ruf einer Eule aus der Ferne zu hören war. Der Boden die  kleinen Waldfläche war mit einem dicken Polster abfallender Fichtennadeln bedeckt, die einen lautlosen Gang sowie eine weiche Lagerstatt ermöglichten.
Nahte wieder einmal von Dattenfeld kommend eine neue Gruppe von Landfahrern, so konnte man das schon in der Ferne Peitschenknall, Hufgetrappel,  Hundegebell sowie das Geräusch ratternder Räder vernehmen.  Motorfahrzeuge kannte man kaum ud die Landstraße war noch holprig - da nicht geteert. Die Wegeränder waren mit dicken Apfelbäumen gesumt, wobei die Schafsnasen (Tulpenäpfel) und Schlotteräpfel überwogen. Kurz darauf schwenkten auch schon die mageren Pferde mit den primitiven Planwagen zum Lagerplatz ein. Die armseligen Fahrzeuge deuteten darauf hin, daß diese Neuankömmlinge zum ersten Mal unseren Ort aufsuchten, um später mit einem neugebauten Wohnwagen aus der Werkstatt Wihelm Klüser den Ort wieder zu verlassen. Während der Bauzeit von etwa 3-4 Wochen durften sie mit einer Sondergenehmigung hier liegen bleiben. Nach ihrer nkunft wurden die Pferde sogleich mit langen Stricken zum Grasen an die Straßenbäume gebunden, die wild kläffende Hundemeute losgelassen und die Kinder zum Betteln ins Dorf geschickt,  während die Frauen umgehend nach ihrer Ankunft zum Hausieren und zum Wahrsagen ausschwärmten.

Der große Familienclan lebte streng nach eigenen Ritten und Gesetzen, wobei damals auch noch ein Geheimcode eine gewisse Rolle spielte, der aber durch verschiedene Veröffentlichungen bekannt war. Diese geheimnisvollen Zeichen oder Zinken waren damals auch in unseren Oren an manchen Türrahmen und Scheunentoren zu finden. Die folgende Zusammenstellung von M. Krausnick gibt über ihre Bedeutung nähere Auskunft:


Zeichensprache der Zigeuner


Die Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen war aufgrund der von ihen Vorgängerinnen hinterlassenen Geheim- und Zinkenzeichen sogleich über die Hausbewohner und ihr Umfeld informiert. So liefen  die Zigeunerweiber mit ihren Kindern stets barfuß von Haus zu Haus, von Ort zu Ort, um mit der Dummheit und Treuherzigkeit der Bewohner ihr Geschäft zu machen. Die Barfüßigkeit fiel bei den knöchellangen dunklen Röcken - deren sie oft mehrere überaneinander trugen - gar nicht auf. Diese waren mit weitem und tiefen Sacktaschen versehen, in denen sich ihr "einnehmendes Wesen" gut verbergen ließ. Sie waren der Grund, weshalb sie ihre Magierkünste stets vor der Haustüre - im Hof vorführen mußten. Während die Frauen ihre lohnenden Künste feilboten, besuchten die Männer umgehend ihren Schreinermeister und Wagenbauer Wilhelm Klüser,


Die Werkstatt von Schreinermeister Wilhelm Klüser in Schladern, hier mit Vollbart

 


Schreinermeister Wilhelm Klüser aus Schladern,

der durch seinen patriarschischen Vollbart und seine langjährige Erfahrungen im Zigeunerwagenbau auch für sie eine gewisse Respektperson darstellte. Die Anzahl der fahrbaren Behausungen, die der Meister Klüser in seinem langen Leben für seine braunen Geschäftsfreunde gebaut hat, ist nicht mehr zu ermitteln. Sie trugen seinen Namen in alle Länder Europas, so daß er bei ihnen einen Bekanntheitsgrad erreichte, der seinesgleichen suchte. Schon bald wurde das Dorf Schladern zu einem internationalen "Zigeuner-Wallfahrtsort", zu einem Bau und Umschlagplatz für ihre Wohnwagen. Wenn auch die Männer dem üblichen Pferdehandel nachgingen oder im Wirtshaus saßen, kontrollierten sie aber auch fast täglich den Fortschritt ihres Auftrages, damit auch ihre Sonderwünsche berücksichtigt wurden. Viele fleißige Handwerkerhände bauten an diesen kunstvollen Wohnwagen, wovon ein jeder zu einem Schmuckstück der Landstraße wurde. Auf hohen Rädern ruhend waren die Wagen sehr stabil aus naturfarbigem dick gefirnißtem Eichenholz gearbeitet. Die einzelnen schmalen Bretter wurden nur mit Messingschrauben befestigt, um der Rostgefahr vorzubeugen. Das gewölbte Dach erhielt einen wetterfesten Anstrich, die kleinen Seitenfenster  sogar zierliche Blumenkästen. Hinter den Pferden befand sich meist eine breite Doppeltür, die in Ruhezeiten zur einer Veranda umgestaltet werden konnte.  Wegen der geringen Werkstatthöhe wurde die Wagen draussen im Freien auf ihr Fahrgestell montiert. Man hat nie gehört, dass der alte Meister Klüser nicht zu seinem Lohn gekommen wäre, im Gegenteil: immer wieder vermittelten die zufriedenen  Kunden neue Interessen., so daß viele Jahre lang sich ein florierender Zigeunerwagenbau in Schladern abwickelte.


Ein Zigeunerlager 1950 im stillgelegten Steinbruch zwischen Schladern und Dattenfeld. Ihr alter Lagerplatz im Krummauel war inzwischen ein Opfer der landwirtschaftlichen Entwicklung geworden.


Bei ihrer Abreise führte der Weg vieler Landfahrer über Beuel, zu ihrem bekannten Zigeunerfriedhof, wo mancher große "Primas" ihrer Sippen begraben liegt.Sie konnten also ganz in der Nähe auch ihre Ahnenkult pflegen. Ausdruck ihrer Lebenskraft, Religiösität, Geisteshaltung und Mentalität waren und sind auch ihre Sprichwörter und Redensarten, die an Realitätssinn, Treffsicherheit, Musikalität, Lebensweisheit, Deftigkeit, Wahrhaftigkeit, Humor und Andersartigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Einige mögen hier folgen, die von Wlislocki und Wittlich gesammelt wurden:

Gott sieht alles - doch er sagt es niemand.
Zwei Augen zum Sehen, zwei Ohren zum Hören und einen Mund zum Schweigen.
Ein Hund, der bellt, beißt nicht.
Wer ausgespuckt hat, soll es nicht wieder auflecken.
Der Haß ist eine Schwindsucht der Seele.
Die Liebe ist der Zahnarzt der Seele.
Bettelei und Liebe sind das Beste im Leben.
Beten macht nicht satt.
Der alten Frau einen Rosenkranz, der jungen einen Mann.
Ein totes Roß sattelt, wer eine alte Frau küßt.
Der Mund eines schönen Mädchens ist die Glocke des Teufels.
Wer Gift kocht, muß als erster kosten.
Ein Ehepaar ohne Kinder ist wie eine Schmiede ohne Hammer.
Eine Rose als Mädchen, die Dornen als Frau.
Eine Wirtschaft ohne Frau ist eine Geige ohne Saiten.
Das Gebrüll eines Esels versteht nur ein Esel.
Nur im Spiegel sieht jedermann seinen Freund.



Dieses Portrait eines Zigeuner-Ehepaares aus dem Jahr 1950 dürfte eine Rarität sein, denn um ihr Vertrauen zu gewinnen, waren tagelange Gespräche, viel Takt und Fingerspitzengefühl erforderlich.



Hier ißt aus der Pfanne ein Teil der Familie Spiegeleier mit Speck



Für die Kinder, deren Schulweg täglich an dieser Werkstatt vorbeiführte, war es nicht so  einfach, sich von dem sie fesselnden Treiben wieder abrupt trennen zu müssen. Bedingt durch einen längeren Zwangsaufenthalt bei der Schreinerei Klüser bahnte sich schon bald zwischen den verschiedenfarbigen Kindern eine gewisse Freundschaft an. Die Kontaktfreudigkeit der Dorfkinder erlaubten ihnen ab und zu die abendlichen Lagerfeuern. Die Erwachsenen blieben von dieser  Gunst  ausgeschlossen. Tagsüber streunte ein Teil der Sippe durch die Dörfer, um ihrem typischen Tageswerk nachzugehen. Man bestritt seinen Broterwerb hauptsächlich durch Hausieren, Wahrsagen, Kartenlegen, Pferdehandel, Betteln, Musizieren und falls sich eine Gelegenheit ergab, auch schon mal durch Mundraub. Wenn die Dämmerung aus den hohen Fichten fiel, kehrten sie stets erfolgreich aus allen Himmelsrichtungen in ihr Lager zurück, wo sie von einer zerlumpten und halbnackten Kinderschar in freudiger Erwartung begrüßt wurden. Die zotteligen, halbwilden Bastardhunde umkreisten schon knurrend den Sammelplatz und bildeten eine abweisende Bannmeile. Der zahnlose Sippenälteste saß meist rauchend als Brandwache am glimmenden Lagerfeuer, da es nicht ausufern oder auch nicht ausgehen durfte. Über der  Aschenglut hing  an einer Kette der schwarze Kochkessel an einem aus kräftigen Haselnußstecken gefertigten Dreibeinbock. Die barfüßigen Kinder schleppten nun emsig neues Brennmaterial herbei, um das Feuer mit weiterer Nahrung zu versorgen. Schon bald loderten aus dem prasselnden Feuer erneut die Flammen, um den Kessel züngelnd zu erwärmen. Die Alte kochte nun das Lieblingsgericht der Zigeuner, da die Igel für sie eine Delikatesse darstellten. Oft hingen sie abgezogen und an den Hinterbeinen wie Ratten auf einer Schnur, die zwischen Bäumen befestigt war. Im Herbst, wenn sie genügend Fett angesetzt hatten, sollen sie am besten geschmeckt haben. Die Kunst, diese nützlichen Insektenvertilger im Gelände aufzustöbern, verrieten die jungen Burschen keinem Außenstehenden. Im Laufe des Abends breitete sich der beißende Qualm harzigen Fichtenzweige, angereichert durch die würzigen Düfte von gebratenem Zwiebel, rotem Paprika, grünen Tomaten, sauren Gurken, Knoblauch und Thymian wie ein Nebelschleier übr dem ganzen Lager aus.
Doch eines Morgens herrschten schon früh rege Betriebsamkeit, große Unruhe und Nervosität im Lager, weil schon am Nachmittag der Austausch der alten primitiven Planwagen gegen die neuen Wohnwagen der Schreinerei Wilhelm  Klüser bevorstand. Seine Enkelkinder durften dann nocheinmal schnell hineinklettern, um sich auch noch an den eingebauten Miniaturmöbeln, die einen Puppeneindruck hinterließen, zu erfreuen. Das halbe Dorf nahm stets an diesem Tag für beide Teile so erfreulichen Ereignis Anteil. Zum Abschied am nächsten Morgen, beim hastigen Aufbruch vor Sonnenaufgang, der meist unter Polizeiaufsicht stattfand, formierte sich das aufgescheuchte Nachtlager unter Weibergekreich, Kindergejammer und Räderquietschen, bei Hundegekläff, Pferdegewieher und Kettengerassel sowie Peitschenknall und unter lauten Kommandorufe der Männer zu einer Karawane, die ohne Ziel, jedoch in Richtung Präsidentenbrücke eilig abzog. Dieses lärmende Schauspiel wiederholte sich viele Jahre lang, jedoch immer wieder mit anderen Zigeunerfamilien und Sippen. In den Ohren der aufatmenden Schladerner Dorfbewohner klang diese "Begleitmusik"alljährlich noch lange nach. Was blieb, war der runde schwarze Brandfleck des erloschenen Lagerfeuers, ähnlich dem eines verlassenen Kohlemeilers - Relikte aus romantischen, doch längst versunkenen Tagen.

 

Die Bärentreiber in Schladern


Der Treiber mit Knappsack und rasselndem Tamborin, der Braunbär mit Maulkorb und klirrender Kette gehörten alljährlich zur Sommerzeit zum dörflichen Straßenbild.

Der sonst übliche Lebensweg eines Bärenkindes, als ein in unbegrenzter Freiheit geborener Herrscher über endlos rauschende Wälder und eine zerklüftete Bergwelt, als mächtiger König im urigen Reich der finstersten Karpatenwildnis wurde in jener Nacht jäh unterbrochen, sollte für ihn zu einem qualvollen Kreuzweg werden. So wurde er nach kaum genossener Freiheit auf verhängnisvolle Weise zum Untertan seiner größten Feinde, zum geknechneten Diener gnadenloser Menschen degradiert. Ihre Profitgier führte dazu, daß er nach Wochen auf einem siebenbürgischen Jahrmarkt in die Hände eines Pferdehändlers fiel, der ihn wiederum an seinen endgültigen Herrn und Gebieter in der Gestalt eines Bärentreibers verschacherte. Nunmehr begann für den inzwischen zum "Meister Petz" erwachsenen Jungbären ein Teufelskreis, ein Leidensweg, der ihn viele sommerlang bei Wind und Wetter durch fast ganz Europa führen sollte.  So kam er mit seinem Treiber, der nicht selten auch ein Schinder war, alljährlich in der Sommerzeit als fremdländisch-orientalisch wirkendes Bettlerpaar auch in unsere Heimat, ins heutige "Windecker Ländchen". Eines Tages, an einem schwülen Augusttag in den 20er Jahren machte wieder einmal auch in Schladern das Gerücht die Runde, daß ein Bärentreiber im Anmarsch sei. Bei jung und alt mischten sich dann gewöhnlich frohe Erwartung, Neugier, Mißtrauen, Ärger, Freude, Staunen, Angst und Mitleid zu der Mixtur der Gefühle, die bei manchen Schaulustigen sich in einer Gänsehaut äußerte. Der zerlumpte Treiber trug einen kräftigen Wanderstab, einen breitrandigen verdreckten Schlapphut sowie über Schulter und Rücken den an einem Hanfseil befestigten Füttersack, der die wengigen Habseligkeiten seines Trägers; die milden Gaben für ihn und seinen Weggefährten enthielt. Den oft hundemüden Bären führte er an einer Kette, deren leises Klirren sich mit dem monotomen Gerassel des üblichen Tamborins zu einer blechernen Melodie paarte, die alles andere als das Prädikat Tanzmusik verdiente. Die jeweils kurzen und plumpen Tanzszenen des mit einem Maulkorb versehenen Raubtieres machten besonders auf die Kinder einen exotischen und furchterregenden Eindruck, den sie nie mehr vergessen werden.
Das allabendliche Ergebnis dieser Folterqualen waren die blutigen Verletzungen der weichen Sohlen des Tanzbären. Bei schlechtem Wetter versuchte gegen Abend der Treiber für sich und seinen Gesellen bei einem der örtlichen Bauern ein Nachtquartier zu finden. In Schladern war das immer - je nachdem von welcher Seite man sich dem Ort näherte - der erste oder letzte Hof am Ein- oder Ausgang des Dorfes - die Scheune von K.B. im Krummauel. Bei ihm war es üblich, daß der Bärenführer sein Feuer und seine Scheune und seine Schuhe beim Betreten in der Scheune aus Sicherheitsgründen abliefern mußten.Der mißtrauische Bauer nahm die zerfetzten und wertlosen Schuhe nur vorsichtshalber in Verwahrung, damit der ausländische Gast nicht in aller Frühe unkontrolliert durch die Lappen ging.



Diese Bärentreiberin war in den 20er Jahren allgemein als "Türken-Anna" bekannt. Auch sie tauchte regelmäßig viele Jahre lang, ähnlich wie die Saisonarbeiter (Ziegelbäcker, Pflasterer) in hiesiger Gegend zur Belustigung der Kinder immer wieder auf.

 

Im Jahre 1933 sollte jedoch noch einmal ein "brauner Bär" aus dem Osten (Braunau a. Inn) bei uns auftauchen, um ganzen Völkerschaften eine Kette und einen Maulkorb anzulegen, wodurch sie alle nach seinem Sirenenklängen tanzen mußten. Es wurde ein Tanz auf dem Vulkan, der für unzählige Menschen zum Totentanz wurde.







Quellenverzeichnis:

Autor:  Emil Hundhausen, Schladern - einst "Mekka" der Zigeuner, Gestern und Heute

Autor des Textes: Karl L. Raab


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